[Festrede anlässlich der Verleihung des „Hochgesand-Preises für Pathologie“ an Dr. Markus Eckstein am 29.10. 2021 in Mainz von Peter Krawietz]
Sehr geehrter Herr Dr. Eckstein, liebe Familie Hochgesand, werte Mitglieder des Kuratoriums, sehr geehrte Doctores Otto und Heide, verehrte Gäste, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es gibt einige gute Gründe, zu uns nach Mainz zu kommen. Einer davon ist die Entgegennahme eines Preises. Neben dem gut dotierten Preis der Familienstiftung Hochgesand gibt es noch etliche andere Auszeichnungen und Preise, die in Mainz verliehen werden, wie zum Beispiel den Gutenbergpreis für Großtaten im weiten Feld der Druck-Kunst und der Gutenbergforschung, den Mainzer Musikerpreis, den Druckgrafik- oder auch den Literaturpreis, den Schneider-Schott Musikpreis für zeitgenössische Musiker, die Carl-Zuckmayer-Medaille für Verdienste um die deutsche Sprache und den Hildegard-von-Bingen-Preis für besondere publizistische Leistungen, um nur einige zu nennen. Auch diese stattliche Anzahl von Preisvergaben halte ich für einen Gradmesser dessen, was eine Stadt zu bieten hat hinsichtlich Kultur und Wissenschaft und bezüglich des wertschätzenden Umgangs mit beiden. Für Mainz dürfen wir zudem noch den Anspruch erheben, dass dieses Mainzer Charakteristikum nichts Neues ist, sondern traditionell zu dieser Stadt gehört.
Gerade in diesem ehrwürdigen Raum, der von den Mainzern recht nüchtern „Steinhalle“ genannt wird, erhalten wir die Hinweise durch hunderte von römischen Steinmonumenten auf eine zweitausendjährige Mainzer Urbanität, die sich durch ethnische und mithin kulturelle Vielfalt, durch Offenheit und Toleranz auszeichnet.
Ja, meine Damen und Herren: Wer immer unsre schöne Stadt mit eigenem Fuß betreten hat, der spürt doch – früher oder später, dass jeder Quadratzentimeter, den sehend, hörend man durchmisst, historisch von Bedeutung ist.
Und man erkennt nach kurzer Zeit, dass ohne die Vergangenheit mit ihren Sorgen, Bürden, Lasten, verknüpft mit Freuden, Sünden, Fasten, die Gegenwart so ungefähr wie konstruiert und leblos wär.
Was für die Stadt selbst gelten mag, gilt gleichfalls für den Menschenschlag, der in gewachsenen Strukturen, in vieler fremder Völker Spuren, in Temperament, Charakter, Geist und Phänotypus sich erweist.
Wie kommt’s, dass diese alte Stadt, solch eigenen Charakter hat?
Und die Antwort lautet so: In Mainz am Mittelrhein kreuzten sich seit alten Zeiten, von den Römern über das Mittelalter bis in die neueren Jahrhunderte die Ideen von West und Ost, von Nord und Süd unseres Kontinents, freilich waren auch immer wieder die Heere und die Soldateska in europäischen Regional- und Nationalkriegen hier zu Gast. Die offene Brückenlandschaft dieser deutschen Geschichte hat kein Geringerer als der rheinhessische Weltbürger Carl Zuckmayer immer wieder beschrieben und dokumentiert, am eindrucksvollsten wohl in dem Stück „Des Teufels General“, wo die Hauptfigur, eben dieser General Harras, dem um seinen Ariernachweis im Ahnenpass besorgten jungen Leutnant die Geschichte einer Familie hier vom Rhein aufblättert und alle Völkerschaften und Stämme aufzählt, die „am Rhein gelebt, geliebt und gesoffen und Kinder gezeugt haben“, von den Kelten angefangen, und wo alle jene, die in friedlicher und freundlicher Gesinnung gekommen waren, eingemeindet, verwandelt und integriert worden sind in dieser Völkermühle Europas.
Mainz war, ist und bleibt eine europäische Stadt der Kultur und der Wissenschaft, ein locus amoenus, wie die alten Römer sagten, ein angenehmer Ort also, wo nicht nur Weintrinker, sondern auch Akademiker sich heimisch fühlen! Greifen wir zum Beleg nur drei von vielen berühmten Gestalten aus der Neuzeit heraus, die Mainz als einen Standort von hohem Geist wahrgenommen haben.
Da ist zunächst der Philosoph und Universalgelehrte des 17. Jahrhunderts, Gottfried Wilhelm Leibniz, der nach seinen Studien und dem Erwerb der Würde des Doktors beider Rechte zufällig 1617 in Mainz hängenblieb, weil er auf seiner Bildungsreise in die Niederlande durch eine Pestepidemie festgehalten wurde. Hier trat er in die Dienste des Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn, der als toleranter katholischer Erzbischof und „Vater“ des Westfälischen Friedens von 1648/49 dem Konfessionshader in seinem Erzstift ein Ende bereiten wollte. Leibniz trat mit juristischen Kodifikationsarbeiten für das Heilige Römische Reich hervor und wurde vom Kurfürsten, der die europäische universalistische Kompetenz des jungen Gelehrten als erster erkannte, in diplomatischer Mission nach Paris geschickt, wo er sich – wie später auch in London – im Auftrag des in Mainz residierenden Reichserzkanzlers um die die Herstellung des europäischen Friedens mühte, zugleich aber auch die Verbindung zu Wissenschaftlern jedweder Couleur aufnahm, die ihn später zu seinen Plänen für gelehrte Akademien und Sozietäten anregten.
Immer wieder hat dieser Hannoversche Protestant, auch nachher als Bibliothekar der Herzöge von Wolfenbüttel, sich um den Frieden der Konfessionen im Reich sowie um den Ausgleich der werdenden Nationalstaaten in Europa bemüht und dafür geistig gestritten. Und immer wieder bekennt er, dass ein Nucleus aller seiner Pläne in Mainz grundgelegt worden sei. Vor allem die Philosophie begriff er als ein wichtiges Instrument des Friedens und der Versöhnung im Vertrauen auf die Macht der geschulten und aufgeklärten Vernunft.
Leibniz fasziniert [auch in dieser Feierstunde], weil ihm daran lag, die rationalen Grundlagen zu schaffen, um die sich bekämpfenden Philosophen und anderen Akademiker wieder auf die eine „philosophia perennis“ zu verweisen. Ihm lag daran, die verfeindeten Konfessionen in einer Ökumene zu vereinen und darüber hinaus die verfeindeten Staaten Europas unter das Römische Reich Deutscher Nation und dieses unter ein christlich geeintes Europa zu bringen. Das alles ohne Waffen, ohne Kriege – in einem konkreten Utopia unter dem Hauch der Wissenschaft und mit dem friedlichen Instrument einer Enzyklopädie, die er bereits in Mainz entwarf, das heißt eines Kompendiums alles Wissens und aller kulturellen Leistungen der Menschheit, die vor allem die führenden Staatsmänner und Diplomaten zu „Weisen des Friedens und der Glückseligkeit“ machen wollte. — Er dürfte in Mainz auch gelernt haben, dass ein Glas Wein die Gedanken beflügelt und dem müde werdenden Geist wieder auf die Sprünge verhilft.
An einen zweiten Mainzer Gelehrten zwischen Aufklärung und Romantik kann man erinnern, der — zwar nicht so berühmt wie Leibniz – aber doch mit der Publikation eines mehrbändigen Buches über das Europäische Gleichgewicht die Ambitionen seiner Zeit, zumal vor der Französischen Revolution, aufgriff und ebenfalls nach einer moderaten Lösung der politischen Probleme suchte. Ich rede von dem Historiker und Politologen Niklas Vogt, der 1756 in Mainz geboren wurde und 1836 in Frankfurt verstarb. Ihm schwebte eine Europäische Republik vor, die er in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht als ein „sittliches System“ vorstellte.
Von ihm erzählt man folgende Geschichte: Seine Vorlesung an der Mainzer Universität über die Anfänge der Menschheit soll er mit den Worten begonnen haben: „Meine Herren, ich sollte mit den Traditionen über das Paradies und Schilderungen über dessen Schönheit, worin sich die Einbildungskraft der Dichter aller Nationen zu überbieten gesucht hat, beginnen. Aber gehen Sie nur auf die Rheinbrücke und sehen Sie das herrliche Land, das den Strom auf- und abwärts sich ihren Blicken zeigt. Bei Gott, das Paradies kann kaum schöner gewesen sein.“
Mein drittes Beispiel sollte ich aus dem Bereich der Medizin nehmen, denn selbst medizinische Laien wissen, dass in unseren Zusammenhang der Medizinprofessor Samuel Thomas von Sömmering gehört, der durch sein Wirken die Atmosphäre dieser Stadt mitgeprägt hat. Ich erwähne ihn auch deshalb, weil er zum einen als Professor für Anatomie ab 1784 an der Mainzer Universität sich und der Stadt Mainz internationalen Ruhm erwarb und Berühmtheiten wie Goethe und Humboldt zu Mainz-Besuchen animiert hat, zum andern weil er die Mainzer liebte als sehr umgängliche und gemütliche Leute, ihnen allerdings einen gewissen Leichtsinn und gelegentliche Gleichgültigkeit vorwarf. Und damit hat er ja nicht ganz unrecht!
Die beiden letzten Jahrhunderte brachten durch extremen Nationalismus und Großmannssucht, die zwei Weltkriege ausgelöst haben, Europa an den Rand des Ruins. Mainz wurde mehrfach bombardiert, wobei 80 % der Wohnbebauung zerstört wurden. Und doch hat man entgegen aller scheinbaren Hoffnungslosigkeit an das Überleben und an den Wiederaufbau von Mainz geglaubt und an einem neuen Europa zu bauen begonnen. Und wieder wurde für diese Stadt Charakteristisches offenbar:
Die Neugründung der Universität Mainz im Jahre 1946 geschah auf Anordnung der französischen Besatzungsmacht, die analog zum biblischen Spruch der Umwandlung von Schwertern zu Pflugscharen eine von Hermann Göring erbaute Mainzer Kaserne als neue Behausung der Johannes-Gutenberg-Universität bestimmte. Es waren auch französische Offiziere, die die überlebenden Fastnachter ermunterten, für die niedergedrückte Bevölkerung wieder Sitzungen zu veranstalten unter dem Motto „Freude spenden, Trübsal wenden!“
Diese Stadt des Erzkanzlers Willigis und des Johannes Gutenberg, meine Damen und Herren, einstmals die Metropole des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Ort der Erfindung des Druckens mit beweglichen Metalllettern, dann im Verlaufe der Französischen Revolution der Boden für die erste Republik auf deutschem Boden, danach Provinzhauptstadt des Großherzogtums von Hessen-Darmstadt – dieses Mainz kann sich auf bedeutende Traditionen berufen und ist nach wie vor — auch in heutiger Zeit – reich durch Kultur und Wissenschaft.
Das beweisen neben vielen anderen Highlights die Chagall-Fenster in St. Stephan, das belegt ganz deutlich die Existenz von Universität und Akademie der Wissenschaften und Literatur, vom Max-Planck-Institut und dem Institut für Europäische Geschichte in der Alten Universität. Und keineswegs geringer einzuschätzende Beweise sind die zu Beginn meiner Rede erwähnten Preise und Ehrungen.
Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr solche Mainzer Charakteristika den Mainzer Ehrenbürger und Namensgeber des heute zu verleihenden Preises Dr. Jakob Hochgesand mit Stolz und mit dem Willen zum Engagement für diese Stadt erfüllt haben. Und uns alle freut die Tatsache, dass der gleiche Enthusiasmus die Nachkommenschaft Jakob Hochgesands beseelt, was — wie gesagt — mit einer der Gründe ist, weshalb wir uns hier und jetzt festlich versammelt haben.
Lieber Herr Dr. Eckstein, wie stelle ich jetzt den Zusammenhang zwischen Ihnen und den genannten Berühmtheiten und Mainz her? Aufgrund ihres bisherigen Werdegangs vom sagenhaften Abiturzeugnis angefangen bis zu Ihrem heutigen Status wäre es verfehlt, das Bibelwort anzubringen, das da lautet: „Siehe, der Stein, den die Bauleute verwarfen, — er ist zum Eckstein geworden.“ Auch eine Gemeinsamkeit mit Leibniz will ich nicht herbeireden, etwa dass auch Sie aufgrund einer Epidemie hier in Mainz hängenbleiben. Was Sie sonst noch an Gemeinsamkeiten mit Leibniz und den anderen entwickeln werden, gehört ins Reich der Spekulationen, vielleicht in den hoher Erwartungen.
Ich meine es genügt, dass Sie zukünftig mit Mainz die höchst angenehme Erinnerung verbinden, in froher Runde den Hochgesand-Preis für Pathologie entgegengenommen zu haben.
Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für Ihr geschätzte Aufmerksamkeit!